
Meine Dauerkarte bei Union Berlin hat mich vor allem zwei Dinge gelehrt: Eine Idealvorstellung von Fankultur und, dass HSV-Fans leicht zu beeindrucken sind. Wie fußballfolkloristisch allseits geläufig haben die Union-Fans ihrem klammen Verein mit waschechter Handarbeit dabei geholfen, das Stadion zu bauen. Der Lohn für die Manpower der Unioner waren Bauhelme in den Vereinsfarben, zahlreiche Fotos und ein wunderbares reines Fußballstadion mit einer lautstarken Stehgeraden, wie es sie im deutschen Fußball nur noch selten gibt.
Jedesmal, wenn mich ein HSV-Fan in die Alte Försterei begleitete, bekam dieser tellergroße Augen. Mein kleiner Bruder, sonst nur die grimmigen Pfiffe des hanseatisch-skeptischen Publikums gewohnt, war zum Beispiel sehr erstaunt, dass die Fans von Union Berlin trotz eines 0:4‑Rückstandes in einem Heimspiel gegen Greuther Fürth guter Dinge waren. Die Gegengerade sang einstimmig und lauthals zu der Melodie von „Guantanamera“: „Ganz enge Kiste! Das war ‚ne ganz enge Kiste!“ Es machte nichts, dass mein Bruder „ranzige Pisse“ verstand und das Lied dementsprechend mitsang.
„Torsten Mattuschek, du kannst, was keiner kann!“
Mein kleiner Bruder, in seiner ganzen Euphorie gepackt, versuchte auch in Zukunft jeden Fan-Gesang mitzusingen. Dass das mangels Textsicherheit auch nach hinten losgehen kann, sollte jedem klar sein. Das schreckte meinen auf einer Welle von Endorphinen und Alkohol schwimmenden Bruder jedoch nicht davon ab, seine gesanglichen Fähigkeiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Probe zu stellen.
Nehmen wir zum Beispiel eine vielversprechende Freistoßposition an der Alten Försterei. Diese bedeutet für gewöhnlich, dass Unions fußballerisch begnadeter Kapitän und Vereins-Ikone Torsten Mattuschka den Freistoß in Richtung Tor treten wird. Sowohl seine Schusstechnik als auch seine Quote lassen sich durchaus sehen, die Fans goutierten seine Fähigkeiten längst mit einem eigens auf Mattuschka zugeschnittenen Fan-Gesang zu der Melodie von „I love you, Babe!“ von Frank Sinatra: „Torsten Mattuschka, du bist der beste Mann! Torsten Mattuschka, du kannst, was keiner kann! Torsten Mattuschka, hau‘ ihn rein für den Vereeeeeeeein!“
Nach einigen Freistößen dachte mein Bruder, er hätte das Prozedere verstanden. Als in einem Spiel der Schiedsrichter auf Freistoß aus aussichtsreicher Position entschied, wollte er mit gutem Beispiel vorangehen und stimmte aus voller Kehle an: „Torsten Mattuschek, du bist der beste Mann! Thorsten Mattuschek, du kannst…“ Das Gelächter rundherum ließ meinen Bruder inne halten. „Mattuschka heißt der Mann“, klärten ihn die umstehenden Fans auf, stimmten aber trotzdem lachend ein: „Torsten Mattuschek, hau ihn rein für den Vereeeeeeeein!“
Rot-weißer Walzer
Beim letzten Heimspiel vor dieser Winterpause stand ich wieder mit einem HSV-Fan auf der Gegengerade. Allerdings war dies nicht sein erster Besuch bei Union Berlin. Vor dem Spiel gegen den 1. FC Kaiserslautern schwärmte er von der alten Försterei vor dem Umbau. Er möge lieber unüberdachte Stehränge, wie damals beim HSV. Mit romantischen Gefühlen erinnerte er sich an seine Dauerkartenzeiten im Volkspark.
Als Union in der zweiten Halbzeit mit 2:0 führte, das ganze Stadion sich schunkelnd in den Armen lag und „FC Union Walzer tanzen wir!“ anstimmte, war es auch um ihn geschehen: „Das habe ich ja seit 20 Jahren nicht mehr gehört – zuletzt in der Westkurve vom Volkspark! Damals hieß es nur ›Den schwarz-weiß-blauen Walzer tanzen wir!‹“, stieß er verblüfft und mit leuchtenden Augen hervor.
Man sah seine durch die winterliche Stehtribüne bedingte Fußkälte innerlicher Wärme weichen. Das Spiel war das letzte vor der Winterpause, fast alle Heimspiele der Hinrunde waren ausverkauft gewesen. Nach Abpfiff ließ ich die Hinrunde bei einen Glühwein noch einmal Revue passieren und tanzte in der Alten Försterei die letzten Walzerschritte des Jahres. Die kalte und klare Dezemberluft, der würzige Glühwein und die zum rot-weißen Walzer schunkelnden Unioner verabschiedeten mich in die Winterpause: Weihnachten konnte kommen.
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