Es dauert nur zwei Minuten, dann ist der Mythos geboren. Zwei Tore fallen in dieser Zeit, und mit ihnen macht sich die Mannschaft des FC Schalke 04 unsterblich. Am 24. Juni 1934 um 18.46 Uhr ist der entscheidende Moment gekommen. Die 90. Minute im alten Poststadion zu Berlin läuft bereits. 45 000 Zuschauer sehen, wie Valentin Przybylski an den Ball kommt und ihn hinaus schiebt auf die rechte Seite. Dort nimmt Ernst Kalwitzki den Pass nur kurz an und schlägt schnell eine weite Flanke diagonal auf Ernst Kuzorra. Wenn es jetzt noch einer richten kann, dann der „Clemens“.
Zwanzig Meter ist der Kapitän vom Tor der Nürnberger entfernt, vor ihm stehen nur noch die beiden Abwehrspieler Popp und Kreissel. Kuzorra weiß, dies ist vielleicht die letzte Chance, um einer Verlängerung zu entgehen. Die Nürnberger haben ein Abwehrbollwerk vor dem eigenen Tor aufgebaut, nach dem Ausgleich zum 1:1 in der 88. Minute durch einen Kopfball von Fritz Szepan wollen sie sich erst einmal in die Verlängerung retten. Doch Kuzorra will mehr, weitere 30 Minuten würde er kaum noch durchhalten. Die Operation seines Leistenbruchs hat er aufgeschoben, bandagiert ist er ins Spiel gegangen. Kuzorra tritt an, schüttelt zunächst Popp, dann Kreissel ab und schießt mit letzter Kraft aufs Tor, ehe er mit Schmerzen zusammensackt. Die martialische Heldengeschichte ist geschrieben, denn Kuzorra hat tatsächlich zum 2:1 getroffen, und das Spiel wird kurz danach abgepfiffen. Die erste Deutsche Meisterschaft für den FC Schalke 04 ist perfekt, der Grundstein für die erfolgreichste Zeit der Vereinsgeschichte gelegt. „Ich wusste nicht, wohin mit dem Ball, da hab‘ ich ihn einfach reingewichst“, sagt Kuzorra später einmal lapidar.
Nach jenem Sonntag im Juni 1934 ist für den Arbeiterverein aus dem Ruhrgebiet nichts mehr wie es war. In einem wahren Triumphzug reisen die Helden von Berlin tags darauf zurück in die Heimat. Bereits in Bielefeld stoppt der Zug das erste Mal, auf dem Bahnhof wird die siegreiche Mannschaft geehrt. Später in Dortmund tragen sich die Deutschen Meister ins Goldene Buch der Stadt ein, die heutigen Rivalitäten zwischen Dortmund und Schalke sind damals noch kein Thema. In Gelsenkirchen schließlich folgt die große Meisterfeier, die dortige „Allgemeine Zeitung“ berichtet in ihrer Dienstagsausgabe von Tausenden von Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz, von Frauen, die in Ohnmacht fallen und von einem noch nie dagewesenen Enthusiasmus. „Es kommt einem zum Bewusstsein, dass so etwas Gelsenkirchen noch nicht erlebt hat. Wir in Gelsenkirchen sind weiß Gott nicht verwöhnt in solchen Sachen“, heißt es da.
Mit jedem weiteren Erfolg wuchsen die Begehrlichkeiten der Nazis.
Angestachelt wird die ohnehin schon aufgeheizte Menge noch von jenen, die politisches Kapital aus dem Sieg der Schalker schlagen wollen. Neben den blau-weißen Fahnen wehen auch die rot-weiß-schwarzen mit dem Hakenkreuz der Nationalsozialisten. Der NSDAP-Kreispropagandaminister Wilhelm Bunse hat die Organisation des Empfangs übernommen, die Schalker Feierlichkeiten werden im Sinne des Regimes instrumentalisiert. Mit dem „Siegheil auf den Volkskanzler“ und dem „Deutschland-Lied“ endet der große Empfang in Gelsenkirchen. Der Schatten dessen, was sich zu der damaligen Zeit Politik nannte, liegt noch immer auf der Schalker Jahrhundertmannschaft, die zwischen 1934 und 1942 sechs Deutsche Meistertitel und einen Pokalsieg eroberte. Mit jedem weiteren Erfolg wuchsen die Begehrlichkeiten der Nazis, heroische Siegertypen aus dem Proletariat passten schließlich nicht nur gut in die Ideologie des Regimes, mit ihnen ließ sich auch vorzüglich von der Realität der Zeit ablenken. Einige Spieler traten der Partei bei, manche darüber hinaus öffentlich für sie ein. Fritz Szepan etwa, neben seinem Schwager Ernst Kuzorra bekanntester Schalker Spieler der Zeit, warb nicht nur für die NSDAP, er übernahm als Mitglied der SA von den Juden Sally Meyer und Julie Lichtmann gegen ihren Willen und im Zuge der „Arisierung“ ein Textilwarengeschäft am Schalker Markt – für lächerliche 7000 Reichsmark. Seinen Jahresverdienst konnte er dank des Ladens danach verzehnfachen. Meyer und Lichtmann wurden 1942 nach Riga deportiert und vermutlich ermordet. Andere, wie Kuzorra, versuchten sich dagegen der Instrumentalisierung durch die Nazis so weit wie möglich zu entziehen. Er wolle einfach nur Fußball spielen, soll er immer wieder betont haben. Heute steht der Name Kuzorra zweimal im Gelsenkirchener Stadtplan, der angedachte Fritz-Szepan-Weg kam nicht zustande.
Der Begriff von der „Kreiselmanie“ macht die Runde
Kuzorra konnte sich diese Haltung leisten. Helmut Schön, 1940 mit dem Dresdner SC bei Schalkes 1:0‑Sieg Endspielgegner um die Deutsche Meisterschaft und später Bundestrainer, stellte den Schalker Kapitän einst auf eine Stufe mit Fritz Walter und Franz Beckenbauer: „Ernst Kuzorra war für mich der größte Fußballer seiner Zeit.“ Und als solcher wusste er sein Gewicht einzusetzen. Er sei verletzt und könne nur dann noch gesund werden, wenn auch Fritz Szepan aufgestellt würde, sagte er etwa 1933 vor dem Länderspiel gegen Belgien zum damaligen Reichstrainer Dr. Otto Nerz. Und auch beim FC Schalke sah er sich selbst in der Rolle des Anführers: „Wir hatten immer einen Trainer, aber die Aufstellung habe ich gemacht.“
Doch entscheidend für den Erfolg waren vielleicht weniger die Personen als vielmehr die Spielweise. Das, was immer wieder schlicht als „Schalker Kreisel“ beschrieben wird, hob sich deutlich ab vom Kraft- und Kampffußball anderer Mannschaften. Der Erfolg des Arbeitervereins ist auf dem Platz „kein Erfolg der Arbeit, sondern einer der Kunst. Der Spielkunst des Kreisels“, heißt es später einmal. Die Brüder Fred und Hans Ballmann, zwei gebürtige Dortmunder, haben diese neue Form des Kicks aus Großbritannien nach Schalke gebracht und den Verein mit dem schnellen Kurzpassspiel reich beschenkt. Das Spiel des Klubs gilt als das attraktivste seiner Zeit, zuweilen berauschen sich auch die Akteure selbst an ihrer Kunst. Manchmal scheint es ihnen wichtiger zu sein, die Gegner immer wieder aufs Neue auszuspielen und vorzuführen, als Tore zu schießen. Der Begriff von der „Kreiselmanie“ macht die Runde. Und auch wenn ohne den Hang zur Übertreibung möglicherweise noch mehr Titel drin gewesen wären, die Zeit des Kreisels war die Zeit der
großen Erfolge.
Besonders gut lief es im Jahr 1937. Deutsche Meisterschaft, Pokalsieg und ein 6:2‑Sieg im Freundschaftsspiel gegen die hochgelobten Profis vom englischen Brentford FC. Alles dank des Kreisels, für dessen Mythos der erste Titel 1934 den Grundstein legte. Die Tore damals von Fritz Szepan und Ernst Kuzorra kamen indes ganz konventionell zustande.
Kampfbetont und nach weiten Flanken.
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